Scheinselbstständigkeit bei Vermittlungsplattformen – Dauerbrenner der IT-Branche

In diesem Gastbeitrag von Melanie Maier, Rechtsanwältin der Kanzlei WOLFF SCHULTZE KIEFERLE, erfahren Sie, was es mit Scheinselbstständigkeit auf sich hat – und wie Sie sich als Auftraggeber von „freien Mitarbeitern“ gegen das Risiko von Scheinselbständigkeit absichern.

Die digitale Transformation ist eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft – auch rechtlich gesehen. Dies spiegelt das Geschäftsmodell der aktuellen und bestimmt auch zukünftigen Wirtschaft, die sogenannte „Plattform-Ökonomie“, wider.

Anbieter und Nutzer/Auftragnehmer derartiger Plattformen haben sich nicht zuletzt aufgrund der Komplexität der IT-Systeme oftmals mit komplizierten datenschutzrechtlichen- oder auch verbraucherschutzrechtlichen Fragen auseinanderzusetzen. Den Anbietern sowie den Auftragnehmern dieser Plattformen ist jedoch zu empfehlen, auch das Arbeits- und Sozialrecht nicht außen vor zu lassen. Die Thematik Scheinselbstständigkeit gewinnt nicht zuletzt aufgrund der Einführung neuer Arbeitsplattformen, wie z.B. Vermittlungsplattformen, weiter an Brisanz im Sozialrecht. Aber auch im Arbeitsrecht rückt die IT-Branche jüngst immer mehr in den Fokus der Rechtsprechung.

Zu den arbeitsrechtlichen Risiken von Scheinselbstständigkeit

Zum Jahresende 2020 erregte beispielweise das Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 01.12.2020, Az. 9 AZR 102/20, aufsehen. In dieser Entscheidung urteilten die Erfurter Richter, dass „Crowdworker“ im Einzelfall Arbeitnehmer sein können. Aus arbeitsrechtlicher Sicht können aus der Feststellung des Arbeitnehmerstatus für den vermeintlichen Auftraggeber immense Folgeprobleme entstehen. Zu nennen sind hier beispielhaft die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes, des Bundesurlaubsgesetzes, des Entgeltfortzahlungsgesetzes und nicht zuletzt des Mindestlohngesetzes.

Zu den sozialrechtlichen Risiken – Gefahr der Scheinselbstständigkeit

Wird in sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht rückwirkend festgestellt, dass es sich bei der vermeintlichen Selbstständigkeit um eine abhängige Beschäftigung beim vermeintlichen Auftraggeber oder den Plattformen als Arbeitgeber handelt, kann dies für den vermeintlichen Auftraggeber bzw. die Plattformen teuer werden. Diese sehen sich i.d.R. mit Ansprüchen der Sozialversicherungsträger konfrontiert und laufen Gefahr, (unter Umständen erhebliche) Sozialversicherungsbeiträge zzgl. Säumniszuschlag nachzahlen zu müssen.  Eine Abwälzung auf den Auftragnehmer ist praktisch kaum möglich. Ob sich hinter der gewählten Vertragsform einer selbstständigen Tätigkeit in Wirklichkeit ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis iSd. Sozialversicherungsrechtes verbirgt, ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Einzelfalles zu prüfen.

Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) stellt bei ihrer Bewertung, ob eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gegeben ist, maßgeblich darauf ab, ob der Vertragspartner bezüglich Art, Ort und Zeit der Leistungserbringung weisungsfrei tätig ist. Dies wird insbesondere danach geprüft, in welchem Umfang der Vertragspartner Berichtspflichten hat, seine Arbeit kontrolliert wird und er Anweisungen betreffend seine Tätigkeit entgegenzunehmen hat. Zudem wird geprüft, in welchem Umfang eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers vorliegt (Zusammenarbeit mit anderen Angestellten, keine eigene Betriebsstätte des Auftragnehmers etc.). Nicht zuletzt wird geprüft, inwieweit der Vertragspartner ein eigenes unternehmerisches Risiko trägt, also z.B. eigene Arbeitsmittel nutzt oder Arbeitsmittel des Auftraggebers zur Verfügung gestellt bekommt. Weitere typische Merkmale unternehmerischen Handelns und damit einer „echten“ Selbständigkeit sind die Erbringung von Leistungen im eigenen Namen und auf eigene Rechnung sowie die eigenständige Entscheidung über die Kundenakquisition, Werbemaßnahmen oder personelle Fragen. Auch die Vergütungsstruktur kann Hinweise darauf geben, ob eine abhängige oder freie Tätigkeit vorliegt.

Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass im Rahmen dieser Gesamtwürdigung dem Vorliegen oder Nichtvorliegen von Merkmalen, die für oder gegen die Annahme einer selbständigen Tätigkeit sprechen, nicht immer das gleiche Gewicht zukommen muss. Die Merkmale werden sogar für die einzelnen Berufsgruppen unterschiedlich gewichtet. Die Abgrenzung zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit erfolgt auch nicht abstrakt für bestimmte Berufs- und Tätigkeitsbilder. Maßgebend sind stets die konkreten Umstände des individuellen Sachverhaltes.

Im Regelfall allerdings dürfte es sich es sich bei Auftragnehmern einer Vermittlungsplattform mangels Weisungsrechts und betrieblicher Eingebundenheit in die Strukturen der Plattform und des Auftraggebers nach deutschem Sozialversicherungsrecht nicht um abhängige Beschäftigte handeln.

Wichtig zu wissen: Widersprechen sich Vertragsgestaltung und praktische Durchführung der Tätigkeit, ist die praktische Durchführung entscheidend. Der schönste Vertrag hilft also nichts, wenn die Praxis anders aussieht.

Einzelfallprüfung unumgänglich!

Die Unterschiedlichkeit der unzählig auf dem Markt existierenden Vermittlungsplattformen lassen jedoch keine abschließende Einschätzung zur Einordnung von Auftragnehmern der Plattform treffen. Eine wie oben dargestellte zeitliche und örtliche Weisungsabhängigkeit zum Plattformanbieter, die in der Regel auf das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung schließen lässt, ist für jeden konkreten Einzelfall zu prüfen.

Praxistipp zur Scheinselbstständigkeit

In der Beratungspraxis ist sicherlich die meistgestellte Frage, wie kann ich mich als Auftraggeber von „freien Mitarbeitern“ gegen das Risiko von Scheinselbständigkeit absichern.

Plattformbetreiber sind zum einen gut beraten, besonderen Wert auf die Gestaltung der Vertragsverhältnisse mit ihren Nutzern zu legen, sämtliche Kontrollmechanismen und Vorgaben bezüglich der Art, Zeit und dem Ort der Durchführung ihrer Tätigkeiten auf ein absolut notwendiges Maß zu reduzieren und eine Einbindung in die eigene Organisation zu vermeiden.

Zu empfehlen kann zum anderen oftmals sein, bereits vor Beginn der Tätigkeit – spätestens bis zum Ende des ersten Monats nach Aufnahme der Tätigkeit – von der Möglichkeit eines optionalen Anfrageverfahrens nach § 7a SGB IV (Statusfeststellungsverfahren) Gebrauch zu machen, da nur über dieses Anfrageverfahren Beitragsnachforderungen für die Vergangenheit vermieden werden können. Der Vorteil des Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV liegt damit in der Rechtssicherheit.

Den Aspekt Rechts- und Planungssicherheit für alle Verfahrensbeteiligten stärkt der Gesetzgeber zum 01. April 2022 weiter. Durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze vom 16.07.2021 (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021 Teil I Nr. 46, Seite 2970) treten am 01. April 2022 Änderungen beim Statusfeststellungsverfahren nach § 7a SGB IV in Kraft.

Im Wesentlichen treten folgende Änderungen zum 01. April 2022 in Kraft:

  • Feststellung des Erwerbsstatus
    Bisher konnte die Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund im Statusfeststellungsverfahren nicht über das Vorliegen einer Beschäftigung isoliert entscheiden, sondern ausschließlich über die Versicherungspflicht (auf Grund abhängiger Beschäftigung) in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung. Das soll sich ab dem 01. April 2022 ändern, denn nach Auffassung des Gesetzgebers zielt das Interesse der Beteiligten vorrangig darauf, den Erwerbsstatus abschließend klären zu lassen und nicht auch die Versicherungspflicht. Daher soll zukünftig nur über den Erwerbsstatus (abhängig beschäftigt oder selbstständig) als Element einer möglichen Versicherungspflicht entschieden werden.  
  • Dreiecksverhältnisse
    Bislang war eine Statusfeststellung nur jeweils im Zweipersonenverhältnis möglich, Dreiecksverhältnisse, d.h. Vertragsverhältnisse an denen mehr als zwei Personen beteiligt sind, konnten nicht abschließend und zusammen geklärt werden. Für Vertragsverhältnisse, an denen mehr als zwei Personen beteiligt sind, wird nun probeweise bis zum 30.06.2027 die Möglichkeit einer umfassenden Statusprüfung geschaffen. Künftig ist also die Einbeziehung Dritter möglich.
  • Prognoseentscheidung
    Bisher wird das Statusfeststellungsverfahren regelmäßig erst nach Aufnahme der Tätigkeit durchgeführt. Hintergrund für diese Verfahrensweise ist, dass für die Beurteilung, ob eine abhängige Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit vorliegt, das gelebte Vertragsverhältnis entscheidend ist, sofern dies von den vertraglichen Vereinbarungen abweicht. Um frühzeitig Rechts- und Planungssicherheit zu erlangen wird befristet bis zum 30.06.2027 eine Prognoseentscheidung eingeführt, die eine Statusfeststellung bereits vor Aufnahme einer Tätigkeit ermöglicht. Grundlage für die Entscheidung sollen die vertraglichen Vereinbarungen zwischen Auftraggeber und Arbeitnehmer und die von ihnen beabsichtigten – antizipierten – Umstände der Vertragsdurchführung sein.
  • Gruppenfeststellung
    Zum Abbau von Bürokratie und zur Schaffung einer möglichst frühzeitigen und umfassenden Gewissheit über den Erwerbsstatus wird – ebenfalls befristet bis 30.06.2027 – die gesetzliche Möglichkeit einer Gruppenfeststellung vorgesehen. Für gleiche Auftragsverhältnisse kann eine gutachterliche Äußerung der Clearingstelle eingeholt werden, die es Auftraggebern gleicher Auftragsverhältnisse erlaubt, bereits frühzeitig Gewissheit über den Erwerbsstatus der Auftragnehmer zu erhalten. 
  • Mündliche Anhörung
    Um die Akzeptanz der Entscheidung der DRV zu steigern, sieht die Reform des Statusfeststellungsverfahrens zudem die Einführung einer mündlichen Anhörung vor.

Melanie Maier
Rechtsanwältin
Kanzlei WOLFF SCHULTZE KIEFERLE
Fachanwälte für Arbeitsrecht

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